Steile Klippen und blühende Ginsterfelder, weiß getünchte Villen, die an den Felsen zu kleben scheinen, Gärten mit Orangen- und Zitronenbäumen, Oleander und Bougainvilleen, Felsengrotten und Badebuchten...
„Ferito amorte“, tödlich verwundet seien Menschen, die mit dieser unglaublichen Schönheit vor Augen aufgewachsen seien, sagte der neapolitanische Schriftsteller Raffaele La Capria, weil sie ihr Leben lang damit geschlagen sind, alles andere mit ihr zu vergleichen . La Capria selbst besaß ein kleines, in den Felsen gegrabenes Haus mit Aussicht auf die Faraglionifelsen (Abb. Seite 61), auf Capris weißes Häusermeer und auf Neapel in der Ferne.

Stammgäste, die hier ihre Sommerfrische verbringen, sind der Meinung, dass man nicht allein nach Capri reisen darf. Für sie ist diese Insel der Seligen - obwohl die Tourismusindustrie auch hier ihre Spuren hinterlassen hat - eine Art Kultstätte der Erholung, ein süchtigmachender Ruheort für die Seele, um mit dem - oder den - Menschen, die einem nahestehen, unvergessliche Stunden zu verbringen.
Das Dolce far niente, das süße Nichtstun, ist auf Capri besonders süß. Zwar nicht zwischen zehn und 17 Uhr, wenn Tausende Tagesausflügler von Neapel und Sorrent übersetzen und die Insel im wahrsten Sinne des Wortes stürmen („Bocca aperto“, sagen die Capreser, „der Schlund hat sich geöffnet“) , aber dafür beim morgendlichen Bad im Meer oder beim abendlichen Bummel auf der Via Tragara.

Capri ist jedoch kein Reiseziel für Menschen, die nur am Strand dösen und zwischendurch ihren sonnengebräunten Körper ins kühle Nass tauchen wollen. Es gibt so gut wie keine richtigen Strände und trotzdem viele Bademöglichkeiten. Abgelegene, meist nur vom Meer aus zugängliche Felslagunen oder aber Anhäufungen von Badekabinen, wo, wie ein Einheimischer belustigt anmerkt, „Hunderte außer Sonne und Meer auch die Nähe ihrer Körper fröhlich teilen“. Standesbewusst?
Marina Piccola, die „kleine Marina“, ist nicht nur der exklusivste Badeplatz, sondern außerdem auch das Villenviertel der prominenz. Von Letzterer hat Capri einiges zu bieten. Stolz erzählen die Capresen von den illustren Gästen, die seit jeher der magischen Anziehungskraft ihrer Insel gefolgt sind. Von Odysseus, den die Sirenen lockten, und vom römischen Kaiser lIberius, der von Capri aus mehr als ein Jahrzehnt die Geschicke des Imperiums lenkte, wovon die immer noch gewaltigen Überreste des alten Palastes, der sogenannten Villa Jovis, von der der mordlüsterne Imperator seine ausgemusterten Lustknaben ins Meer zu stürzen pflegte, stummes Zeugnis ablegen.

Später waren es dann Schriftsteller und Poeten, Maler und Philosophen, Künstler und Lebenskünstler, Revolutionäre und glamourös gescheiterte EXistenzen, Dandys und Exzentriker, die zur Seelenkur kamen und ihr Herz an die Insel verloren, und, wenn auch nicht immer auf den ersten Blick, erkennbare spuren hinterlassen haben. Die liste ist schier endlos - Oscar Wilde, Rilke, Thomas Mann, D. H. Lawrence, Pablo Neruda, Werfel, Debussy (widmete den Hügeln von Anacapri, der kleinen, ländlichen Schwester des Hauptortes, eines seiner schönsten Präludien), Strawinsky, Lenin, der Arzt und Schriftsteller Axel Munthe, der seine Villa in Anacapri mit Kunstschätzen füllte ...
Peggy Guggenheim flitterte nach jeder neuen Eheschließung auf Capri und der Stahlkönig Friedrich Alfred Krupp, der sich sogar eine Grotte kaufte, die er neogotisch einrichten ließ, soll , so wie Biberius, seinen Hang zu schönen Jünglingen in wildesten Orgien ausgelebt haben. Als Vermächtnis an die erotischen Sinnesfreuden, die er genoss, ließ er, so berichtet es die Legende, die schwindelerregend steile Serpentinenstraße Via Krupp (Abb.) in den Felsen schlagen.

Wie man den Kalkfelsen, der sich im Laufe der Zeit in einen Mythos verwandelt hat, am besten entdeckt? Beim Gehen. Die Wege auf diesem „Tempel der Natur“, wie der russische Dichter Turgenjew das Eiland pries, sind so malerisch und mit dermaßen vielen Sehenswürdigkeiten und atemberaubenden Ausblicken - der blau-weiß glitzernde Golf, der wolkenbekränzte Vesuv, die lieblichen Konturen der kampanischen Küste, das steil aufragende Ischia - garniert, dass sie zu wiederholten Spaziergängen verführen. Man geht, wo man will, süd-, nord- ost- und westwärts, und begegnet dabei ständig landschaftlichen und baulichen Schönheiten, so vielen, dass man nicht glauben will, Capri sei nicht viel größer als zehn Quadratkilometer. Was die Blaue Grotte angeht: Sie ist nicht nur der spektakulärste, sondern auch der überlaufenste Ort - vor allem in der Hochsaison. Übrigens: Auf Capri sind nicht alle Grotten blau und jede (Grotta Bianca, Grotta Verde, Grotta dell'Arsenale) hat ihren eigenen Reiz.
Apropos Reiz: In der Küche Capris sind Vergangenheit und Gegenwart aufs Köstlichste vereint und werden nach Bedarf wohl dosiert.
Zu Ehren einer gastronomischen Kultur, deren Einfachheit ihre Stärke ist. Eine Einfachheit, die, wie verwöhnte Gaumen behaupten, nur schwer zu schlagen ist. Genießen Sie Ravioli alla caprese, Pezzogna
all’acqua pazza (Brasse in Tomatensud), Polpette di melanzane (Auberginenknödel ), Torta caprese (Kuchen nach Capri-Art) ...

Einfach köstlich ist auch Limoncello - selbst gemachter Zitronenlikör (Alkoholgehalt: 40 Prozenti ), der eisgekühlt genossen wird.
Und was, wenn bei Capri die rote Sonne im Meer versinkt? Abends, wenn das letzte Schiff mit verschwitzten „turisti giornalieri“ abgelegt hat, wenn man sicher ist, dass sich der Besucherstrom aus den Gassen verflüchtigt hat, erwacht das mondäne Capri, füllen sich die Bars und Straßencafes auf der Piazza Umberto, die vielen als der Salon Capris gilt, sinkt man in die Korbstühle des Stammcafes, frönt das ebenso betuchte wie chice Publikum, das untertags für gewöhnlich in seinen Villen, die meist seit Generationen in Familienbesitz sind, unter sich bleibt, sonnengesättigt seiner lieblingsbeschäftigung: sehen und gesehen werden. Hier sind sie alle gesessen und haben ihren Cappuccino genossen oder am Campari genippt – Dichter und Denker ebenso wie Adelige und Industriekapitäne, Stars und Sternchen: Aristoteies Onassis, die Callas unter einem großen Hut, Jackie O., Jean Paul Sartre zusammen mit Simone de Beauvoir, B. B. ebenso wie Liz Taylor, Julia Roberts und Harrison Ford ...

Die schönsten Sonnenuntergänge genießt man übrigens von der traumhaften Terrasse des Hotels „Caesar Augustus“, vom Leuchtturm Punta Carena oder vom Gipfel des Monte Solaro, der bequem mit dem Sessellift erreichbar ist. Heillose Romantiker schwären auf die Felsenlandschaft an der Punta Carena.
Shopping-Delirien im Mondschein? Ein Muss für Fashionistas, so sie über das nötige Kleingeld verfügen: In der Via Vittorio Emanuele und Via Camerelle reihen sich Nobelboutiquen von Gucci über Ferragamo bis Hermes aneinander. Den Schlummertrunk nehmen Menschen mit Lebensart am besten an der Bar des Grandhotels „Quisisana“ - so wie es schon der Dichter Oscar Wilde zu tun pflegte.
PS: Trotz ihres ständigen Umgangs mit den Touristen sind die meisten der rund 13.000 Capresen jederzeit bereit, auf eine Botschaft der persönlichen Sympathie mit geballter Freundlichkeit zu antworten. Mehr noch: Fast jeder ist erfreut, jedem, der das aufrichtig will, die Tür in die eigene Welt von Capri zu öffnen, wo der höfliche Gast dann oft zum Freund avanciert. Aber wie meinte schon Simone de Beauvoir: „Kein Mensch ist Tourist, wenn er nicht erst einmal respektvoll ist“.