Johann Wolfgang von Goethe war der Letzte. Der Letzte, der Capri verpasste.
Dabei wäre er um ein Haar auf der Insel hängen geblieben - oder besser: an deren Felsen. Weil des Dichterfürsten Segelschiff an dem Gestein fast Schiffbruch erlitt, war Goethe heilfroh, die "gefährliche Felseninsel" hinter sich gelassen zu haben.
Und das sollte für immer so bleiben.
Seit jener verhängnisvollen Begegnung im Mai 1787 aber hat das kleine Eiland im Golf von Neapel praktisch jeden europäischen Schöngeist von Rang in seinen Bann gezogen. Die bedeutendsten Dichter, Denker. Maler, Komponisten, Lebenskünstler und Exzentriker, alle waren sie da. Oscar Wilde erholte sich hier von einer zweijährigen Zuchthausstrafe, zu der er wegen Homophilie verurteilt worden war. Maxim Gorki schrieb in Capris Rotem Haus das Schauspiel "Die Mutter, während Wladimir Iljitsch Lenin zwischen Ausflügen mit den Fischern und Schachpartien an der Revolution bastelte. Felix Mendelssohn Bartholdy ließ sich von der bizarren Felsenkulisse zu einer Klavierkomposition inspirieren. Joseph Beuys zur "Capri - Batterie". Am besten in Erinnerung behalten haben die Capresen aber Alfred Krupp. Der millionen schwere "Kanonenkönig" aus Essen verfiel der Insel so sehr, dass er ihren Bürgern nicht nur eine Parkanlage stiftete, sondern mit der Via Krupp auch einen Wanderweg hauen ließ, der sich so spektakulär die Felswand hinunterwindet, dass er zu einer ihrer größten Sehenswürdigkeiten wurde.
So avancierte der knapp elf Quadratkilometer große Kalkfelsen zum Mekka der Individualisten - und die illustren Besucher zu den Begründern eines einzigartigen Mythos, der die Insel seit nunmehr anderthalb Jahrhunderten umgibt. Und heute? Morgens um neun, wenn die Fähren und Tragflügelboote im Zehnminutentakt an den Kais von Marina Grande festmachen, strömen die Tagestouristen zu Hunderten an Land. Fremdenführer halten ihre Fähnchen in die Luft, am Eingang zum Funicolare bilden sich Schlangen. In vier Minuten transportiert die Zahnradbahn die Menschenmassen hinauf zur Piazzetta, dem Herz der Insel.
Minuten nur dauert es, bis der frisch gelandete Besucher in die Shoppingwelt des internationalen Jetsets eingetaucht ist, in der sich schon in den 60er -Jahren Berühmtheiten wie Brigitte Bardot oder Prinzessin Soraya vergnügten. Von Hermès bis Brioni - so viele Edelboutiquen auf so engem Raum wie in Capris Zentrum gibt es sonst wohl nur in St. Moritz und am Flughafen von Dubai.
Doch der Eindruck von schierem Kommerz, der hei diesen ersten Anblicken entsteht, trügt. Trotz Massentourismus und Luxus pur: Ein Abdriften in die geschlossene Welt der Reichen und Schönen wird Capri genauso erspart bleiben wie ein Ballermann 6. Ersteres verhindert der nicht zu bremsende Zuspruch der Massen, letzteres allein die Topographie, die dem Eiland auch die Verschandelung durch monströse Hotelbauten erspart hat. Denn den romantischen Kern umgibt eine schroffe Schale: steile Felswände und zerklüftete, steinige Buchten prägen sein Äußeres. Weitläufige Sandstrände und Urlaub unter Palmen - Fehlanzeige!
Und so ist es die Natur, die die capresisehe Schönheit ausmacht: die mächtigen Kliffe entlang der rauen Küste, der elegante Felsenbogen Arco Naturale ebenso wie die drei Spitzen der Faraglioni, die vor der Südküste prominent aus dem Meer ragen und zum Wahrzeichen der Insel wurden. Wenn morgens die Sonne aufgeht und Capri noch im Schlaf liegt, sind die berühmten Felsenklippen weit entfernt von der Abgeschmacktheit des Tausendmalgesehenhabens. Das Meer in Schwarz-Blau rauscht sanft, dazu ist nur das Kreischen der Möwen und das Vogelgezwitscher zu hören. Majestätisch liegt es dann im Meer, das viel bestaunte Gestein.
Die erstaunlichste Naturschönheit aber ist die Blaue Grotte. Grotta Azzurradiesen Namen haben die meisten Reisenden gehört, lange bevor sie einen Fuß auf die Insel setzen. Ihr zauberhaftes blaues Leuchten ist längst bekannt, und auf Fotos scheint die Farbpracht bestens dokumentiert.
Warum also, fragt sich der Gast, die Höhle überhaupt noch besuchen? Teuer ist der Eintritt, abschreckend der Andrang der täglich bis zu 5000 Besucher - nur das Bild der Ruderboote, die sich vor dem Eingang drängen wie Schwäne in der Erwartung, Brotkrumen zugeworfen zu bekommen, vermittelt dem Wartenden das Gefühl, dass der Besuch zu einem außergewöhnlichen Ereignis werden könnte.
Und das wird er. Denn wenn die Ruderer ihre kleinen Boote erst einmal durch den kaum einen Meter hohen Eingang geschleust haben, findet sich der Gast in einem magischen Reich wieder. Das Wasser strahlt in so intensivem Ultratürkis, dass es oft mit "blauem Feuer" verglichen wird. Auch wer die Höhle zuvor auf unzähligen Fotos gesehen hat und keinen weiteren Reiz erwartet, wird angesichts dieser Phosphorflut von Staunen ergriffen.
So klein Capri ist, so groß sind seine Gegensätze. Das flache Meer und die steilen Felsen; die elitären Besucher vergangener und die unzähligen Tagesausflügler heutiger Tage; die Abgelegenheit der Villa, die sich der Schriftsteller Curzio Malaparte auf ein Felskap bauen ließ, und die ununterbrochene Beobachtung des Bauwerks durch Touristen. Der wohl größte Kontrast unterscheidet die beiden Ortschaften des Eilands. Zunächst ist da Capri. Ein Pflaster, so mondän wie teuer, so attraktiv wie überlaufen, so belebt wie eng. Den höheren Teil der Insel beherrscht hingegen Anacapri - eine Siedlung, wie sie ländlicher nicht sein könnte.
Nicht einmal vier Kilometer liegen die Ortschaften auseinander, und doch trennten sie noch Anfang des 20. Jahrhunderts Welten. Als der schwedische Medizinstudent Axel Munthe 1921 auf Capri landete und vom Hafen Marina Grande über die 777 Stufen der Phönizischen Treppe hinauf nach Anacapri gelangte, erzählten ihm die Dorfbewohner von der "gente malamente", den .,bösartigen Leuten" im Nachbardorf, deren Schutzpatron kaum ein Wunder vollbringe - wo doch Sant' Antonio, der Schutzpatron von Anacapri, seine Wunderkraft schon mehr als hundertmal bewiesen habe. Doch die herzliche Abneigung der ungleichen Schwestern muss spätestens angesichts der Besuchermassen verblasst sein. Trotzdem ist ein Unterschied geblieben.
Denn nach Anacapri verirren sich vergleichsweise wenige Touristen; einmal abgesehen von jenen, die gleich weiterfahren auf die 589 Meter hohe Spitze des Monte Solaro - oder die Villa eben jenes Axel Munthe besichtigen. Das kuriose Traumhaus des schwedischen Modearztes ist so etwas wie eine Pilgerstätte, seitdem der Capri-Liebhaber mit dem "Buch von San Michele" 1929 seine Memoiren veröffentlichte. Der in annähernd 50 Sprachen übersetzte Bestseller lockt heute mehr als 200 000 Neugierige pro Jahr in das Haus des spätberufenen Dichters. Ansonsten aber ist Hochcapri, wie der Ortsname ins Deutsche übersetzt lautet, ein Flecken, wie er untouristischer nicht sein könnte: Eine bäuerliche 6000-Seelen-Gemeinde, auf deren Hochebene jeder verfügbare Quadratmeter bewirtschaftet wird.
Von Anacapri aus führt die kleine Via Nuova del Faro hinab zum westlichen Ende der Insel. An der Punta Carena ist nichts mehr wie auf der anderen Seite des Monte Solaro. Einsam liegt der Lido del Faro in der zerklüfteten Bucht - die abgelegenste Badeanstalt Capris. Über ihren Bambushütten thront mächtig der Leuchtturm der Punta Carena auf einer Landzunge. Ein Bollwerk von einem Leuchtturm, der 50 Kilometer ins Meer hineinscheint und damit an Leuchtkraft nur von seinem genuesischen Pendant übertroffen wird.
Doch technische Daten wie diese interessieren wenig, wenn es Abend wird auf Capri und die Sonne den Himmel zum Glühen bringt. Während die Wellen ruhelos und doch völlig ruhig an die Felsen schlagen, spricht ein Deutscher in sein Handy: "Wir warten gerade auf den Sonnenuntergang.
Und ein Fischerboot fährt auch vorüber." Wenn bei Capri die rote Sonne im Meer versinkt - dann sucht noch immer jeder Besucher nach dem Mythos der Insel. Er wird fündig.

JÖRG WALSER