Einmal noch, einmal muss er es schaffen. Das rechte Bein schmerzt ihn, das andere will auch nicht mehr so recht, was wollen Sie, Signora, mit 72 Jahren ist man nicht mehr der Jüngste. Er sitzt unten, jeden Nachmittag, wenn die Sonne tiefer steht, zu ihren Füßen. Und schaut hoch. Es war der dritte, den er wieder und wieder besucht hat, ohne Seil. “Habe ich nie gebraucht, weiß ja nicht, was das ist, Höhenangst.” Auf dem dritten Faraglione, dem mythischsten aller Felsen Capris, lebt Podarcis sicula coerulea faraglionensis, die Blaue Eidechse mit dem kobaitfarbenen Rücken und dem azurblauen Bauch. Viele haben sie gesucht, die Deutschen natürlich auch, blutige Anfänger, die Michele Ferrara vom Felsen klauben musste, an dem sie in Todesangst klebten. Es war eine Art Fluch der Blauen Eidechse, die sich allen entzog oben auf dem Faraglione Scòpolo, allen außer Michele.
Er war kern Fischer, wie noch sein Vater, er arbeitete im Hotel Quisisana. 54 Jahre lang hielt er den Tennisplatz sauber, ein halbes Jahrhundert Harken, Bälle suchen, “die sie manchmal gottweißwohin schlugen, die Herrschaften aus Amerika und Australien”. Es kamen Profi s ins Quisisana, damals wie heute die vornehmste Adresse der Insel, Tennisgötter, die ganz oben auf der Weltrangliste standen, und deren Namen dem alten Michele entfallen sind. “Capri ist em Kommen und Gehen und alle tragen diese fremdländischen Namen.” Die für ihn exotisch klangen und irgendwie gleich. An seinem freien Tag ging er klettern, um allein zu sein auf dem dritten Faraglione.
Der Scòpolo ragt wie em Backenzahn aus dem Meer, schroff, kahl und gewaltig. Vor ihm steht, wie em stummer Diener der zweite Felsen Stella mit dem Torbogen. Der erste haftet an einer Landzunge. Die Faraglioni sind eines der großen Naturwunder Italiens, für die Touristen auf der Aussichtsplattform von Tragara wie zum Greifen nah, und doch unerreichbar.
Curzio Malaparte, der deutschitalienische Schriftsteller, hat sie in den Fensternseiner Villa eingefangen wie in einem kostbaren Gemälde.
Die Villa Malaparte auf dem Felsvorsprung Punta Massullo ist eines der bedeutendsten Beispiele moderner italienischer Architektur (Adalberto Libera 1938/39).

HAUS WIE ICH
Der Dichter nannte sie “Haus wie ich”, bizarr wie er, mit ihrer riesigen Freitreppe und dem lang gestreckten, mit einer gigantischen Sichel unterteilten Flachdach. Eine Anspielung, wie die rote Farbe, auf Malapartes späte politische Vorlieben, nachdem er zunächst mit dem Faschismus sympathisiert hatte. Mussolini verbannte ihn auf die Liparischen Inseln. Das “Haus wie ich” aber avancierte zum Treffpunkt der europäischen Schriftstellerelite. Jean Cocteau kam, Albert Camus, Alberto Moravia. Als Malaparte 1957 starb, hatte er die Villa in einem Aufwail extremer Provokation der Volksrepublik China vermacht. Seme Familie aber verhinderte die “Auslieferung”. Capri, der Sehnsuchtsort des egomanischen Kaisers Tiberius und der europäischen Bohème, trotzte als sprichwörtlicher Antipode der Gleichmacherei der gelben Gefahr, und die Chinesen zogen nicht auf die Punta Massullo. Stattdessen übernahm die Florentiner Stiftung Ronchi die Villa.
In diesem Sommer haben sie das Haus einem deutschen Schriftsteller vermietet. Sein Name ist streng geheim. Er will, erzählt man sich in den Bars auf der Piazzetta, in aller Ruhe sein neues Buch schreiben. Und er muss, soviel ist gewiss, Geld haben, viel Geld. Denn Capri, die einstige Ziegeninsel, ist teuer und mondän wie wenige andere Orte in Italien. Auf der Via Camerelle, wo ernst lokales Kunsthandwerk feilgeboten wurde, limonengeschmückte Keramik und die berühmten CapriSandalen, reihen sich nun die Boutiquen wie m der Via Condotti zu Rom oder der Via Montenapoleone zu Mailand. Es sind die gleichen Namen, exotisch und irgendwie gleich, Namen, die Michele gleich wieder vergessen würde, wenn er noch im Quisisana arbeitete, das über der Ladenschnur thront wie ein Kastell. Morgens um neun putzen die Verkäuferinnen die Schaufenster bei Gucci, Strenesse und Co., wenigstens sie kommen noch aus Capri, und weil die verehrte Kundschaft noch in den Kissen zu ruhen pfl egt um diese frühe Stunde, halten die Mädchen einen Schwatz von einem Wischeimer zum nächsten. Sie tauschen ihre Tipps aus über Fitnessstudios und Frisöre, man muss als Verkäuferin auf Capri ganz schön was tun an sich, um als quasi fl eischgewordene Schaufensterpuppe die Klamotten besser zu verkaufen. Aber vielleicht war das immer so, und andererseits ist ja ganz Capri ein einziges Schaufenster, in dem ein und dasselbe Produkt in immer neuen Facetten feilgeboten wird: Die Insel selbst.
Es geht dabei nicht immer fair zu, das muss man sagen. Die Tagestouristen, die allmorgendlich von April bis September mit dem Schnellboot aus Neapel einfallen und sich mit der Seilbahn zur Piazzetta fahren lassen, zahlen absurde Preise für einen Kaffee oder eine Pizza oder einen Kinderhaarschnitt bei Bruno und Carlo in der Via Longano. Für einmal trocken Schneiden bei einem Fünfjährigen kassiert man dort 25 Euro. “Auf Capri ist alles teuer”, erklärt Bruno, und verzichtet auf em Lächeln als kostenlose Dreingabe.
Gegenüber der Certosa di San Giacomo füllt Massimo Lionetti sorgfältig das Parfüm Junior I in kleine Glasfl aschen. Junior ist das Kinderparfüm der Marke Carthusia, und es verkauft sich bestens, ebenso wie die Duftwässer für die Erwachsenen, die CapriBlumen heißen oder Capri Luft oder einfach Ich, Capri. Die Insei ist jedenfalls immer inklusive, denn darum geht es ja auch, em Stück zu verkaufen. Capri lässt den Duft und die Umsätze noch etwas höher fl iegen. Lionetti, 27, der jetzt so vorsichtig die kostbare Flüssigkeit fur das bambino von Welt durch Papier fi ltert, auf dass sie kristallinrein ins Fläschchen tropft, war früher Metzger. Aber die Fleischerei des Vaters warf nicht mehr viel ab, und so wech selte der Junior eben ins Parfümfach, eine typisch capresische Karriere. “Ich habe sowieso me viel gerochen”, verkündet Lionetti und setzt hinzu, dass eine gewisse, diesbezügliche Robustheit in seinem Beruf nur von Vorteil sei, es käme auf Sorgfalt an, Konzentration, keinesfalls aber auf die Nase.
Die Nase aber kommt bei Carthusia aus Piemont, sie heißt Laura Tonatto und kreiert auch in anderen Laboratorien. Aus Capri, denkt man, kommt dann wohl wenigstens der Duft. Nach Zitronen, nach Glyzrnien, nach wildem Rosmarin und Nelken, wie sie hoch über den Faraglioni an der Via Pizzolungo wuchern. Blumenduft, wie der Prior von San Giacomo ihn im Jahre 1380 anlässlich eines Besuchs der Königin Johanna zufällig im Wasser der abgeblühten Sträuße einfi ng. Die Formel wurde 1948 mit Genehmigung des Papstes an Carthusia weitergegeben. Seither produziert die kleine Firma in Handarbeit ihre edlen Wässerchen.
Aber das heißt noch lange nicht, dass die die Zitronen fur die Parfümherstellung auch hier pflücken. Die Essenzen stammen aus Grasse in der Provence, und dass Carthusia trotzdem nach Capri riecht, liegt wohl eher an der Vorstellung der Kunden davon, wie ihre Trauminsel duften könnte.
Gleich hinter der Certosa di San Giacomo liegen die Augustusgärten und steil darunter fällt die Via Krupp ab zum Meer. Das Tor zu Capris berühmtester Straße ist fest verschlossen, der Zugang erfolgt auf eigene Gefahr, nachdem vor einigen Jahren ein junger Mami durch einen herabstürzenden Felsbrocken erschlagen worden war. Ein paar unerschrockene Touristen sonnen sich trotzdem in den Haarnadelkurven, die der Industrielle Friedrich Alfred Krupp anlegen ließ, um auf schnellstem Weg zum Anlegeplatz seiner Yacht zu gelangen. Er hat dieses Kunstwerk einer Straße dann selbst nicht mehr sehr genießen können, denn em Skandalartikel derneapolitanischen Zeitung Il Mattino vertrieb von der Insel. Darin wurden Krupp, der sich stets ohne Frau und Kinder auf Capri präsentierte, homosexuelle Orgien mit einheimischen Jugendlichen unterstellt. Capri hatte damais bereits den Ruf eines Dorado der homosexuellen Bohème aus dem Norden, rasch klebte man das Etikett dem deutschen Kanonenbaron an, der in einer Grotte geheimnisvolle Bankette veranstaltete und seine Freizeit der Erforschung der Meeresfauna widmete. Krupp hat den Skandal nur um wenige Monate überlebt, auf Capri trauern sie ihm bis heute nach.
Die Absicherung und Totalrenovierung des Felsenwegs, den keiner betreten darf, würde Millionen kosten, die Capri nicht hat. Der Hauptort der mondänsten Insel des Mittelmeers ist knapp bei Kasse. Mögen die Erben der Tiroler Kristalldynastie Swarovski hier ihre Sommer genießen, soll der LuxusSchuster Diego Della Valle mit seinem privaten Hubschrauber die Baustelle seiner neuen Villa kontrollieren viel Lärm um nichts. Die Residenzen der Reichen bringen der Kommune nichts ein. Und die Touristen lassen viel Geld auf der Insel, aber auch viel Müll, der kaum von normalen Müllfahrzeugen abgeholt werden kann, denn es gibt nur wenige befahrbare Straßen. Die Entsorgung wird per Hand betrieben, und diese Handarbeit schlägt teuer zu Buche.
Das Problem mit dem Wasser indes ist gelöst.
Grundwasser und Quellen gibt es nicht, dafür eine Wasserleitung vom Festland. Vincenzo Ruggiero kann sich noch gut daran erinnern, wie es vorher war, wie das Wasser gebracht werden musste und doch im Sommer me reichte. Ruggiero, 63, besitzt eine der letzten Oasen Capris, die “Villa Brunella” an der Via Tragara über den Faraglioni, eine dieser paradiesischen Stätten, an denen man versacken möchte, bis ans Ende der Tage, mit Blick auf den Zitronengarten, die hohen Pinien dahinter und das Meer. Hart hat er sich das erarbeitet, mit zwölf Jahren angefangen, als Laufbursche und Nachtportier in den kleinen Herbergen. Ruggieros Vater war Fischer, er selbst fährt auf das Meer, wann es geht, allein mit den Wellen, dem Wind, den Erinnerungen. Jean Paul Sartre hat auf seiner Terasse gesessen, hat in Ruggieros Bar ein Glas getrunken, auf?s Meer geschaut und nichts gesagt. Die Sängerin Milva kam Jahre lang, der Schauspieler Marcello Mastroianni. “Die gute Seele”, sagt Ruggiero. “Wie er war: Der einfachste Mensch der Welt.”
Sie suchen die Ruhe, die Bellezza, den Gechmack der Ravioli alla caprese, jene Kombination aus Schlichtheit, überwältigender Naturschönheit und Luxus, die Capri unwiderstehlich macht. Ruggiero empfängt sie in famiglia, seiner eigenen. Mittags um zwei verlässt er kurz seinen Platz an der Rezeption. Die Enkelinnen sturmen aus der Schute, es ist der Höhepunkt des Tages.
Der Padrone ist ein Dörfl er. Er pfl egt den” Campanilismo”, die Rivalität mit Anacapri. Er schüttelt sich, wenn er “Neapel” hört. Er sagt: “Es gibt ja Inseln, ich will kerne Namen nennen, die haben nicht unsere Eleganz.” Ischia ist auf Capri die Unaussprechliche, “die Insel, die es nicht gibt.”
Es ist spät geworden an der Via Tragara.
Die Dämmerung hängt hinter den Faragioni.
Sie sollten nachts beleuchtet werden, die Umweltschützer liefen Sturm, es wurde nichts daraus. Michele Ferrara kommt die Felstreppe herauf. Hunderte von Stufen, er läuft sie jeden Tag. “Und wenn mein Bein das schafft, schafft es wohl auch den Felsen, oder?” Er trägt eine Plastiktüte, darin sind die Krebse, die er heute gefangen hat, fur?s Abendessen. Früher hat er manchmal auch die Blaue Eidechse gefangen.
Für “hochgestellte Persönlichkeiten”, sagt er, Ehrfurcht in der brüchigen Stimme. Das Quisisana verschickte die Reptilien an seine berühmtesten Gäste, kleine Aufmerksamkeit aus Capri, statt Blumen. Einmal hat Michele zwei Exemplare dem italienischen Staatspräsidenten gebracht.
Eine Frage noch: Warum lebt die Eidechse eigentlich nur auf dem dritten Felsen? Er stutzt und grinst. Und schluckt. “Einmal habe ich fünf Paare auf den mittleren gebracht, die Stella. Wollte sehen, ob sie sich akklimatisieren. Im Sommer darauf hatten sie schon Junge.” Und der dritte, der Faraglione an der Landzunge? “Niente, Signora”.
Nie hätte ich das getan. Die lucertola azzurra an Land bringen. Es hätte ihr Ende bedeutet. Man hätte sie genommen und verkauft, genommen und verkauft. Wie man das macht, auf dieser Insel.” So aber ist sie in ihrem Reservat geblieben, kostbar wie em Juwel in Capris allerletztem Tresor, unerreichbar und uneinnehmbar. Auch für den alten Michele.

BIRGIT SCHÖNAU

Informationen
Anreise: Mit Alitalia oder Lufthansa von Frankfurt oder München nach Neapel ab 228 Euro.
Von dort oder vom nahen Sorrent aus mit der Fähre nach Capri.
Unterkunft: Hotel Villa Brunella, Via Tragara 24a, Tel. 0039/081 837 01 22, www.villabrunella.it.
Preise zwischen 250 und 350 Euro die Nacht.
Weitere Informationen: Azienda Autonoma di Cura, Soggiorno e Turismo, Piazza Umberto I, 80073 Capri, Tel. 0039/081 837 06 86
In Deutschland: Staatliches Italienisches Fremdenverkehrsamt (ENIT), Goethestraße 20, 80336 München, Tel. 089/53 13 17, www.enit.it/de