CAPRI Like Ice in the Sunshine
Eine Insel und ihr Mythos
ADAC reisemagazin - 01/05/2008
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Man konnte der Musik zusehen damals. Auf den Knien, die Nase an die Glasscheibe des doch, das hieß so Musikmöbels gedrückt. Hinter der Scheibe hatte sich der Greifarm gerade zielsicher eine Single aus ihrem Fachgegriffen, E 18, die erste an jedem Sonntagnachmittag bei den Großeltern, und jetzt bugsierte er E 18 über den Tonteller, ließ sie fallen, und schon kam der Arm mit der Nadel ("Diamant!", sagte Opa an dieser Stelle immer, "echter Diamant!") und rumste in die Rille. Es knisterte, es rauschte, es knackte, und dann begann Schuricke zu singen, mit dieser Stimme, die immer so klang, als schwebe eine Hand voll Sternenstaub in der Luft um ihn herum, von der roten Sonne, von den Fischern, von der bella Marie. Schuricke sang, E 18 drehte sich, und Opa sah Orna ganz zärtlich an. Wahrscheinlich tat er das weniger wegen Orna, auch nicht wegen Schuricke und bestimmt nicht wegen Capri. Eher wegen seines kleinen Enkels, der, völlig entzückt von Mandolinenklang und Sonnenuntergang, schon wieder die Tasten E und 18 gedrückt hatte.
Vier Jahrzehnte später wird der an einem heißen Julimorgen von seinen 250 Mitpassagieren in der Marina Grande von der Fähre geschoben und erkennt ziemlich schnell, dass die sieben wartenden Taxis bis etwa 23.30 Uhr brauchen werden, um die Menschenmenge abzutransportieren. Alles drückt, alles redet, alles ruft "Hierher, nein, dorthin!", kleine Kinder fordern laut schreiend ihr erstes Eis, kleine Kinder lassen ihr erstes Eis fallen und schreien noch lauter, und bis er herausgefunden hat, zwischen welchen Metallgittern man sich für welche Buslinie anstellen muss, stehen da schon 27 Meter Wartende vor ihm.
Es sind die ersten Momente auf Capri, und man soll sich ja nicht voreilig festlegen, aber man kann auf dieser Insel schon ziemlich schnell den Eindruck gewinnen, sie sei möglicherweise etwas überfüllt. Auch hinter der kleinen Mauer an der Bushaltestelle tost es ziemlich. Das ist das Strandbad delle Sirene, Kiesstrand, flach abfallend, 13 Meter und eine Straße von den Häusern entfernt. An diesem Morgen hat dort jeder Badegast nicht mehr als zwei Handtuch breit Platz.
Bei der ersten Busfahrt kann er dann viel über Capri erfahren. Zum Beispiel, dass das eingeschränkte Raumangebot kein Problem der Marina Grande allein ist, sondern ein inselweites. Platz ist nirgends auf Capri, aber die Menschen hier haben gelernt, keinen Platz zu nutzen. Sie haben die Autovermieter nicht auf ihre Insel gelassen und stattdessen kleine Elektrobusse angeschafft, in denen es so voll wie in der Tokioter U-Bahn ist. Sie haben Serpentinen in die Steilküsten geschlagen, auf denen auch vor Schwindel gefeiten Passagieren ein schwummriges Gefühl den Nacken hinaufkriecht (vor allem, wenn sie stehen und es unmittelbar vor der Fensterscheibe 500 Meter lotrecht nach unten geht). Sie haben sich sogar einen für süditalienische Verhältnisse nachgerade erzkonservativen Fahrstil zugelegt und Parkplätze auf den Flachdächern ihrer in den Hang gebauten Häuser. Irgendwie haben sie es sogar geschafft, an der Haltestelle "Grotta Azzurra" einen kleinen Wendehammer unterzubringen. Mit Ausweichbuchten, damit die ankommenden Busse sich zügig mit den abfahrenden Bussen koordinieren können. Wenn man eins auf Capri nicht gebrauchen kann, dann einen Stau irgendwo auf der Insel. Ein Stau irgendwo wird auf Capri nämlich schnell zu einem Stau überall auf Capri.
Zur Blauen Grotte fährt er zuerst, weil er sie aus dem Kopf haben will sie wäre sonst die ganze Zeit über wie eine Fledermaus durch seine Gedanken geflattert. Lieber jetzt, lieber zum Auftakt des Besuchs, auch wenn's schlimm wird. Denn dass es schlimm wird, ahnt er. Es wird dann schlimmer. Im Wasser vor der Höhlenzufahrt dümpeln mehr Boote als einst vor Troja, nachdem die Griechen angerückt waren. Und Ausflugsschiffe. Und Yachten. In die Grotte dürfen nur kleine capresische Ruderboote, die ihre Passagiere zuvor bei den größeren, wartenden Booten abgeholt haben. Die gelangweilten Yachtkapitäne fahren in der Zwischenzeit weiter draußen kleine Kurven, was weder dem Wellengang vor der Grotte noch den Wartenden sonderlich guttut.
Aber dann ist sein Boot endlich dran und dann drin, und die Dunkelheit leuchtet tatsächlich wunderschön blau, und für einen ganz kurzen Moment rührt das in ihm tatsächlich etwas an. Bevor er dieses Etwas gedanklich packen und inspizieren kann, beginnen sämtliche Gondolieri in der Grotte leider damit, "Ave Maria" und "Nessun dorma" durcheinanderzukrakeelen, einer pfeift ununterbrochen das Intro von "7 Nation Army", kurz: Er ist froh, dass der Rudermann nach drei Minuten wieder hinausmuss. Hinlegen, befiehlt dieser insechs Sprachen, die Ausfahrt zum Meer ist niedrig, und als endlich alle liegen oder zumindest sehr schief hängen, kracht leider eine meterhohe Welle ins Boot. Das mit dem Trinkgeld hat sich damit erledigt.
Das mit der Fahrt zum Hotel auch: Der Elektrobusfahrer verweigert die Mitnahme - für einen Fahrgast tropft und trieft er zu sehr. Gut, dann wird halt ein wenig über Capri nachgedacht. Der Kellner im Strandcafé nebenan verzieht das Gesicht und tauscht den Korbsessel schnell gegen einen Plastikstuhl aus; für den Kaffee will er 5 Euro, sofort, doch. Unten im Wasser dümpelt noch immer eine beträchtliche Armada, zwischen den Wellenschlägen liegt die Kakofonie der Sänger in der Luft.
Es war - es war natürlich! diese Grotte, die Capri zu Capri machte. Ihre Entdeckung hat die Insel reich gemacht, hat Ziegenhirten in Immobilienhaie verwandelt und arme Fischer in Flaneure in Prada. Das unwirkliche, blaue Höhlen-Leuchten lockte die Fremden nach Capri, auch die exzentrischen, die Pablo Nerudas und Graham Greenes und Claude Debussys, deren Werke den Ruf der Insel mehrten und Capri zum Mythos machten. Das hatte davor und hat danach einige Male funktioniert, von Französisch-Polynesien (Gauguin!) über den Wilden Westen (Lewis and Clark!) bis nach Indien (Die Beatles! Der Maharishi!).
Capri erwischte es zu einem besonders passenden Zeitpunkt, in den Fünfzigern.
Da träumten die Deutschen an grauen Fernsehsonntagen von der Insel des Glücks, bei Sendungen, in denen Wiener Schauspieler auf der Mandoline dilettierten und in der Grotte "O sole mio!" schmetterten, als gebe es kein Morgen oder zumindest kein Venedig. Capri - der Name allein verhieß Sonne, Dolce Vita, ach was: Glück verhieß er! Und plötzlich gab es nicht bloß die Capri-Fischer, sondern auch Hosen, Eis, Fruchtsaft und einen ästhetisch ziemlich fragwürdigen Sportwagen unter dem Inselnamen. Capri!
Am nächsten Morgen wacht er auf einer anderen Insel auf. Sein Hotel in Anacapri liegt mitten in Olivenhainen und Obstgärten, die Luft riecht nach Oleander und Vanille und frischen Cornetti auf der Frühstücksterrasse. Beim Cappuccino plant er seinen Tag: in die Stadt erst, wenn die Touristen weg sind. Und jetzt auf den Monte Solaro, bevor sie dort mit dem Sessellift hinauffahren. Leider biegt er dann am Gartentor rechts in den engen Weg ab und nicht links, und bevor er merkt, dass er falsch ist, merkt er etwas ganz Anderes: dass nämlich die eine Seite des zwei Meter schmalen Weges, die mit der Natursteinmauer, dass die drei oder vier Grad wärmer ist als die andere, die in die Gärten übergeht. Er geht ein paar Meter im Zickzack, warm, kühl, warm, kühl, und als ob unwirkliche Blau hinabzustarren. Minutenlang. Tief unten ziehen Motorboote weiße Brautschleppen. Möwen schweben in langen Spiralen an den Felsen entlang nach oben, lassen sich fallen, nutzen die Thermik laut rufend zur nächsten Aufwärtsspirale.
Er läuft weiter, die Küste entlang, auf einem in den Fels gehauenen Pfad, der überall dort, wo es abgründig zu werden droht, mit Heiligenbildchen ausgestattet ist. Unten, im blauen Meer, duellieren sich einfallende Sonnenstrahlen mit den reflektierenden Wellen, alles scheint, alles gleißt, die Welt ist ein Spiegel. Er bleibt lange dort draußen.
Anacapri wirkt nach Einbruch der Dunkelheit, als habe man die Luft aus ihm gelassen. Der Ort zieht sich auf eine mediterran ungewöhnlich eigenbrötlerische Art in sich zurück. Ganze Restaurants verschwinden; wo mittags noch voll besetzte Tische standen, führen jetzt alte Männer ihre Pudel spazieren. Es dämmert, die blaue Stunde; eine azurne Melancholie legt sich wie feine, unsichtbare Gaze über die Insel. Jetzt ist die Zeit für die Stadt, die große, Capri, die kapriziöse, auf dem Bergrücken im Inselosten. Bis vor ein paar Stunden haben sich hier schnaufende Menschen mit hochrotem Kopf wie zu schwer gepanzerte Kreuzritter hinaufgeschleppt. Jetzt sind die letzten Fähren fort, und Capris andere Besucher flanieren vom Yachthafen hinauf, die Reichen, die Schönen, die von innen Leuchtenden, denen man hinterherschauen muss, um sich später ihrer Anmut und Leichtigkeit erinnern zu können. Diese Gassen am Abend sind der beste Ort der Welt, um zu sehen, was simple Riemchensandalen, ein weißer Strickpullover und ein Sommerrock mit einer Frau anstellen können, stellt er fest. Und natürlich die samtene Luft des Meeres. Und das Wissen um die eigene Makellosigkeit.
Er beschließt, länger zu bleiben. Er ahnt, dass die Insel ihr Netz nach ihm ausgeworfen hat. Er weiß, dass dies nun nichts mehr mit Schuricke zu tun hat, sondern viel eher mit dem, was Capri schon lange vor E 18 zu einem besonderen Ort gemacht hat. Es wird sogar behauptet, die Insel sei das Sirenen-Eiland des Odysseus gewesen und Äonen zuvor jener mythische Fleck, an dem die Schöpfung die Schönheit entdeckt habe. Einst hätten die Götter auf Capri gewohnt, heißt es, und später die Kaiser. Roms Imperatoren sind Staub, und die Götter sind vertrieben worden von 16 000 Ausflugstouristen täglich, von grotesken Quadratmeterpreisen und Trattorien, die 12 Euro für das Glas Pinot Grigio verlangen aber möglicherweise, denkt er, kommt ja der eine oder andere hin und wieder zurück und sieht nach, was so geworden ist aus der alten Heimat. Vielleicht verweilt er dann ein wenig, eine Stunde, ein paar Augenblicke. Und vielleicht begegnet man ihm, ohne es zu merken.
Es gibt eine Art Magie, die der Mensch nicht zerstören kann, auch nicht durch das Aufstellen einer überdimensionierten Marien-Statue. Die Villa Jovis liegt den meisten Touristen zu weit abseits; als er am späten Nachmittag hier ankommt, ist nur noch der Wächter da, und der will gerade gehen. Der Palast des römischen Kaisers war einmal der Nabel des Imperiums. Rund zehn Jahre regierte der alternde Tiberius von Capri aus die damals bekannte Welt. Beinahe die komplette Insel kann man von den bröckelnden Mauern der Palastruine sehen, auf der anderen Seite liegt das Festland im Blau des Meeres, als gehöre es eigentlich gar nicht dorthin.
Es dämmert, es dunkelt, für einen Moment schwebt etwas wie ein kosmisches Seufzen in der opaken Luft, als atme die Zeit selbst ein und wieder aus. Dann ist es Nacht, die Lichter gehen an, und Capri verwandelt sich in einen von zehntausend Glühbirnen gesprenkelten Dampfer, der über die nachtschwarzen Meere steuert. Und wenn man genau hinhört, kann man auch das Bordorchester spielen hören, eines mit Mandolinen und Gitarren. Und Schuricke singt dazu, und er klingt noch immer wie damals. Als schwebe eine Hand voll Sternenstaub in der Luft um ihn herum.